Freitag, 15. Januar 2021

Ein neuer Blick auf Verantwortung!

 

Der Artikel zur Verantwortung von Marina Stege in der letzten Ausgabe der Empathischen Zeit beschäftigte mich noch lange nach seiner Lektüre. Ich hing vor allem an dem Satz: "ich bin nicht für die Gefühle meiner Tochter verantwortlich.". Ich sage genau das gleiche in meinen Einführungen: „Ich bin nicht verantwortlich für die Gefühle der anderen.“ - und begegne dabei immer wieder dem Widerstand und Unverständnis der Teilnehmerinnen. Diese Aussage kommt ihnen egoistisch und herzlos vor. Ihre Bedürfnisse nach Mitgefühl und Beitragen zum Wohl der anderen melden sich und sind im Mangel.

Und ich fragte mich, ob ich mit diesem Satz wirklich das ausdrücke, was ich ausdrücken will.

Es kam mir so vor, als ob es hier eine Unsicherheit gäbe, die den Sprachgebrauch des Begriffes von "Verantwortung" betrifft, den wir in der GFK pflegen, und ob nicht vielleicht ein anderer treffender und hilfreicher wäre. Deshalb möchte ich in diesem Artikel einmal genauer untersuchen, was genau ich eigentlich meine, wenn ich "Verantwortung" sage.

Hinter Marinas Satz liegt die Erkenntnis der GFK, dass unsere Gefühle aus uns und in uns selbst entstehen. Sie werden ausgelöst durch die Dinge und die Ereignisse, denen wir im Leben begegnen, also auch den Handlungen der anderen Menschen und dem, was sie sagen. In der GFK üben wir, diese "Fakten" genau zu benennen und nennen sie "Beobachtung"- wir beschreiben, was gerade genau passiert (ist) - ohne Urteile und Bewertungen dazuzufügen.

Diese Beobachtung löst in uns eine zumeist und zuerst jedenfalls unbewusste innere Reaktion aus: wir bzw. unser Hirn ordnen das Geschehene in unsere Zusammenhänge und Erfahrungen ein und entwickeln dazu bewusste Urteile und Bewertungen und eben auch Gefühle: wenn wir ein Auto sehen, dass sich auf uns zu bewegt, schätzen wir sofort unbewusst seine Geschwindigkeit ein, berücksichtigen zunächst sicherlich ebenso unbewusst die übrige Umgebung und entwickeln dann vielleicht Angst und denken: das ist gefährlich.

Das ist eben die Aufgabe der Gefühle und Gedanken: sie sollen unser Überleben sichern, indem sie uns helfen, unsere Situation zu bewerten, unsere Bedürfnisse zu erkennen und für ihre Erfüllung zu sorgen. In meinem Fall ist der Grund der Angst und des sie begleitenden Gedankens "das ist gefährlich" vermutlich unser Bedürfnis nach Sicherheit, das im Mangel ist.

Und wenn die Gefühle und Gedanken, die jemand hat, verursacht werden durch diesen inneren Prozess, der in der betreffenden Person abläuft, habe ich als Außenstehender keinen direkten Einfluss darauf. Das, was ich sage und tue, löst nur etwas aus, ich bewirke nicht ursächlich etwas und "ich bin auch nicht verantwortlich" dafür.

So gesagt, klingt das eigentlich ganz schlüssig: ich bin nicht für Deine Gefühle verantwortlich.

Gleichzeitig frage ich mich, ob Verantwortung für mich das meint: Nur, wenn ich etwas ursächlich hervorrufe oder bestimme, dann bin ich dafür verantwortlich. Wenn nicht, dann nicht.

Für mich ist Verantwortung vor allem etwas anderes: sie ist ein Bedürfnis, eine Qualität, die ich in mir habe, die wir alle in uns haben. Ich sehne mich nach einem verantwortungsvollen Umgang miteinander in der Welt. Und um mir das Bedürfnis nach Verantwortung zu erfüllen, versuche ich, dafür zu sorgen, dass das, was ich sage und tue, in Übereinstimmung mit meinen Werten und Vorstellungen geschieht. Das ist für mich Verantwortung in der GFK: meine freiwillige Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass meine Handlungen dazu beitragen, einen friedvollen Raum für Mitgefühl im Miteinander zu erschaffen.  Ich nehme mich ernst und versuche, meinen Wunsch umzusetzen, unsere Welt ein bisschen schöner zu machen. Das schaffe ich, weil Deine Gefühle und Bedürfnisse auch Teil meiner Welt sind, und ich sie zusammen mit meinen berücksichtigen möchte.

Wenn ich dagegen sage: ich bin nicht verantwortlich für Deine Gefühle und Bedürfnisse, scheint es mir, dass ich ganz woanders stehe: ich drücke ein statisches Urteil aus und verwende den Begriff Verantwortung, wie er im Bereich des bürgerlichen Rechts gebraucht wird: ich bin Verursacher und deshalb verantwortlich gegenüber dem Gesetz und dem Richter, stehe Rede und Antwort, und ich hafte für etwas.

Das Paradigma, das diesem Sprachgebrauch zu Grunde liegt, basiert auf Schuld und Strafe, auf Macht-Über und auf Gewalt. Und es kommt mir so vor, als ob ich mich genau dieses Sprachgebrauches bediene, wenn ich so etwas sage: ich verursache Deine Gefühle nicht, also bin ich auch nicht verantwortlich dafür.

Genau aus diesem Denken will ich allerdings raus. In meiner GFK-Vorstellung bin ich überhaupt nicht verantwortlich - niemandem und auch nicht mir selbst gegenüber, sondern "ich übernehme Verantwortung". Verantwortung übernehmen - das ist für mich meine freiwillige "Verpflichtung", dafür zu sorgen, dass das, was ich sage und tue, in Übereinstimmung mit meinen Werten und der Grundabsicht der GFK: zum Frieden beizutragen, geschieht. Und ob es diese Übereinstimmung gibt, erkenne ich an den Konsequenzen und Wirkungen von dem, was ich tue und sage.  Und wie Du Dich fühlst, wird auf jeden Fall eine Auswirkung von dem sein, was ich gesagt oder getan habe - auch wenn es hier keinen ursächlichen Zusammenhang gibt.

Und auch die Erfüllung Deiner Bedürfnisse liegt nicht in meiner Macht, da meine Handlungen niemals der ursächliche Grund für ihre Erfüllung sein können. Gleichzeitig ist die Absicht der GFK, zu Deinem und unser aller Wohlergehen beizutragen. Sie ist für mich die Sprache des Friedens und impliziert, dass ich Deine Bedürfnisse genauso wichtig nehme wie meine eigenen.

Und so kann ich sagen: ja, ich übernehme Verantwortung für meine Handlungen und ihre Auswirkungen auf Dich, auf die Gesellschaft, auf die Erde. Ich stelle mich meiner Verantwortung. So kann ich auch etwas bedauern, was ich gesagt oder getan habe und was vielleicht zu Resultaten und Konsequenzen geführt hat, die ich nicht gewollt habe. Ich erkenne an, dass Deine Gefühle eine Folge von dem sind, was ich gesagt oder getan habe. Es ist keine ursächliche Folge, und es hätte sicherlich auch zu einer anderen Konsequenz führen können. Gleichzeitig ist es so, wie es ist. Und dafür übernehme ich Verantwortung. Nur dadurch kann ich sagen, dass es mir leidtut und kann es bedauern. Und so wird, glaube ich, auch Vergebung und letztlich Heilung möglich.

Deswegen ist es für mich so, dass ich, auch wenn ich keinen ursächlichen Einfluss auf die Gefühle und Bedürfnisse, bzw. die Bedürfnislage der anderen Person habe, sie doch mit in mein Denken und Handeln mit einbeziehen will. Sie finden innerhalb des Bereiches statt, für den ich Verantwortung übernehmen will.

So versuche ich, für mein Handeln Strategien zu finden, die die Bedürfnisse der anderen gleichermaßen berücksichtigt wie meine. Und Teil meiner Verantwortung liegt darin, hierbei die Balance zu finden.

Insgesamt kommt, wenn ich sage, dass die Bedürfnisse der anderen Person, der anderen überhaupt, so wichtig sind wie meine, noch ein weiterer Aspekt zum Vorschein, der mir sehr wichtig ist:

Ich rede zwar von "meinen" Bedürfnissen und "Deinen", benutze diese Unterscheidung allerdings nur, um zu zeigen, auf wem gerade meine Aufmerksamkeit liegt. Im Grunde ist es ja so, dass die Bedürfnisse universell sind.

Sie sind kollektiv, sind nur gerade unterschiedlich in der anderen Person oder in mir präsent.

 

Und den kollektiven Aspekt der Bedürfnisse möchte ich gerne noch etwas beleuchten und dazu einmal unser Bedürfnis nach "Verantwortung" hernehmen, um das es ja hier geht. Und mit ihm zusammen spielt auch "Freiheit" eine große Rolle: weil nur, wenn ich davon ausgehe, dass ich frei entscheiden kann, was ich sage und tue, kann ich dafür auch Verantwortung übernehmen. Deshalb sind diese beide Bedürfnisse für mich sehr eng verknüpft. Und ich möchte sie für unseren Gebrauch in der GFK genauer definieren, um sie besser von dem "bürgerlichen" bzw. umgangssprachlichen Gebrauch zu unterscheiden und klarer in ihrem Gebrauch sein zu können.

Beide Bedürfnisse haben in der Geschichte unserer Gesellschaft eine fundamentale Bedeutung, die zurückreicht in die Bemühungen des aufstrebenden Bürgertums, sich aus dem Feudalismus und Klerikalismus zu befreien. Ab jetzt ging es nicht mehr um eine höhere autoritäre Ordnung, der alle dienen, ab jetzt stand das Individuum im Mittelpunkt der Gesellschaft.

Dementsprechend ist die Definition von beiden sehr individualistisch: meine Freiheit ist das höchste Gut, und sie besteht darin, jederzeit tun und lassen zu können, was ich will (und das wird sogar gewünscht und gefördert, denn: wenn jeder gut für sich selbst sorgt, ist für alle gut gesorgt - das ist das Bild der bürgerlichen Philosophie). Meine Freiheit ist eigentlich grenzenlos und kommt nur da an ihre Grenze, wo sie die Freiheit der anderen Person, dasselbe zu tun, beschneidet. Freiheit bezeichnet die Autonomie des einzelnen Subjektes.

Dementsprechend auch das Verständnis von Verantwortung: Entweder sie wird nur in der individuell festlegbaren Übereinstimmung von Werten und Handlungen gesehen, oder sie braucht, weil der Mensch an sich ja als schlecht angesehen wird und seine Freiheit missbrauchen könnte, eine Instanz, der gegenüber jeder verantwortlich ist: das Gesetz und die staatlichen Institutionen.

Mir ist bewusst, dass ich hiermit eine Sichtweise darstelle, die die bürgerliche Philosophie und Sichtweise sehr vereinfacht und auf die Spitze treibt. Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang vor allem, dass heutzutage beide Begriffe, Verantwortung und Freiheit, subjektiv und individuell gefasst und verstanden werden.

In meinem Verständnis von Verantwortung und auch von Freiheit sind die anderen Menschen (und auch die anderen Lebewesen, die ganze Natur) bereits mitgedacht. Nicht, dass ich da schon eine fertige Definition parat habe. Ich weiß aber, spüre es ganz deutlich in mir, dass beide Bedürfnisse für mich kollektiv sind, nur so einen Sinn haben. In meiner Fantasie kann nur ich allein gar nicht wirklich frei sein. Ich kann das nur im Zusammenhang mit anderen. Und auch meine Verantwortung sehe ich als kollektives Bedürfnis, dass alle anderen Menschen mit einschließt.

Vielleicht verschwindet auf diese Weise auch die Vorstellung von der Trennung von Individuum und Gesellschaft bzw. Gemeinschaft ein bisschen.

 

In meiner Vorstellung bekommt all das in diesen Corona-Zeiten eine besondere Bedeutung. Ich habe im letzten Jahr etwas gelernt, glaube ich: nämlich, dass der Ausweg aus dieser Situation nur kollektiv geschehen kann. In der Beschäftigung mit Corona und den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie hat es mir geholfen, mein Verständnis von Verantwortung und Freiheit neu zu definieren. Ich habe die individualistische Perspektive auf diese Bedürfnisse aufgegeben und ihre kollektive Dimension erkannt. Dadurch ist es mir leichtgefallen, aus dem scheinbaren Widerspruch vieler weiterer Bedürfnisse, die sich in diesem Zusammenhang in mir melden, herauszukommen und komme in einen inneren Frieden.

 

Was trotzdem nicht heißt, dass ich mit allem einverstanden bin…

 

In solchen Momenten ist es dann manchmal nicht so leicht, Verantwortung zu übernehmen und andere an diesem Prozess beteiligte als Menschen zu sehen.

Das ist nämlich auch Teil der Verantwortung, wie ich sie verstehe: selbst in Momenten, in denen ich denke, dass meine Bedürfnisse wirklich unerfüllt sind, mein Herz offen zu halten. Auch in diesen Situationen offenbart sich die kollektive Dimension unserer Bedürfnisse, weil ich erkannt habe, dass auch hier die Gemeinschaft eine entscheidende Rolle spielt.

Oder, wie Miki Kashtan es in den Core-Commitments formuliert:

 

Selbst wenn ich die Handlungen oder Worte anderer nicht verstehe, sie mir Angst machen oder schmerzhafte Auswirkungen auf mich haben, will ich davon ausgehen, dass ihnen eine menschliche Absicht zugrunde liegt, die auf Bedürfnissen basiert. Wenn ich bemerke, dass ich Hintergedanken unterstelle, andere in Schubladen stecke oder ihre Handlungen analysiere, will ich mir Unterstützung dafür holen, mich wieder in dem Wissen zu verankern, dass jede menschliche Handlung ein Versuch ist, Bedürfnisse zu erfüllen, die auch in mir angelegt sind. Dies gilt selbst dann, wenn diese Handlungen nicht lebensdienlich zu sein scheinen

 

Selbst wenn ich über erhebliche Erfahrung und großes Wissen verfüge, will ich mir vergegenwärtigen, wie wenig ich in Wirklichkeit weiß und wie sehr ich schlicht ein Teil der Entfaltung des Lebens bin. Wenn ich bemerke, dass ich eine Situation kontrollieren will oder mich auf meine Autorität berufe, um Unstimmigkeiten aus dem Weg zu gehen, dann will ich mir Unterstützung holen, um mein Festhalten an ein Ergebnis zu lösen, um Komplexität und Ungewissheit willkommen zu heißen, um verschiedenen Perspektiven zuzuhören und mich ehrfurchtsvoll dem Mysterium des Lebens in seiner Fähigkeit sich anzupassen, zu transformieren und zu erneuern hinzugeben.

 

Und vielleicht ist das der Kern von Verantwortung im Sinne von GFK: dafür Sorge zu tragen, dass mein Herz offen bleibt.